Wahre Pfadfinder

Im November hatte ich einen wunderbaren Morgen im Naturschutzgebiet, nachdem ich mich an einem Sonntag kurz nach Sonnenaufgang hochgescheucht hatte, um rastende Kraniche in den Hemmerder Wiesen zu sehen. Und ich zog tatsächlich das große Los: Mehre hundert Kraniche auf dem Weg ins Winterquartier ließen sich – malerisch vom aufsteigenden Nebel umgeben – von der Morgensonne wachküssen. Es war der einzige Tag, an dem ein großer Trupp Kraniche Hemmerde als Rastplatz wählte – ein großes Geschenk, dabei sein zu dürfen! Der sonnige Reisetag führte später tausende Tiere über unseren Garten. Während man ihnen nachschaut, drängt sich die man Frage auf, woher sie eigentlich so genau wissen, wo es lang geht. Kraniche ziehen in großen Schwärmen, die Jungvögel lernen von den Älteren, und wer sich den Weg schlecht gemerkt hat, kann ja einfach den anderen hinterherfliegen. Aber was macht beispielsweise ein kleiner Kuckuck, der in den Hemmerder Wiesen schlüpft und ganz ohne seine Eltern bis nach Südwest-Afrika fliegen muss? Insgesamt ist so ein Kuckuck in seiner ersten Flugsaison 10 Monate auf Reisen und legt bis zu 16.000 km zurück, einschließlich mehrerer tausend Kilometer Flug über die Sahara. Noch dazu nachts. Wie er das anstellt, ist bis heute rätselhaft. Seit man Vögel und größere Insekten, von denen Milliarden Tiere wandern, mit Mini-Sendern ausstatten und verfolgen kann, gibt es endlich Fortschritte bei der Erforschung der Orientierung von Langstreckenziehern.



An Rotkehlchen (Erithacus rubecula) wurden viele Versuche zur Orientierung von Singvögeln durchgeführt.

Geerbter Flugplan


Der erste Flug eines alleinziehenden Jungvogels verläuft quasi mit Autopilot. Es gibt ein geerbtes Muster mit groben Richtungsangaben, also z.B. „Südwest für 2 Wochen“. Versetzt man diese Vögel, fliegen sie nach Südwest, selbst wenn das die falsche Richtung ist. Diese erste Reise ist das Vogelabitur: Nur rund 30 Prozent schaffen es zurück in die Brutgebiete. Die Heimkehrer bringen eine erlernte Karte ihrer Welt mit. Versetzt man solche Vögel an einen anderen Ort, fliegen sie trotzdem in die richtige Richtung, sie gleichen die „Entführung“ aus. Dabei scheinen verschiedenen Techniken eine Rolle zu spielen: Sicht natürlich. Viele Tiere nutzen einen Sonnenkompass, den sie mit ihrer inneren Uhr abgleichen. Landmarken sind ein wichtiges Hilfsmittel, aber sie nützen nur, wenn die Landschaft bekannt ist. 

Wer nachts fliegt, wie der Kuckuck, braucht aber noch andere Orientierungspunkte: Für viele Vögel scheint auch der Geruch eine wichtige Rolle zu spielen. Aus Experimenten mit Tauben weiß man, dass sie sich ohne Geruchssinn schlechter orientieren können. Möglicherweise hilft auch die Akustik: Einige Wissenschaftler vermuten Infraschallwellen, also extrem niedrig frequenten Schall unter 20 Herz, den wir nicht hören können. Dieser werde von einigen Tieren wahrgenommen und genutzt, etwa von Brieftauben. Jeder Ort hätte dann eine Art Infraschall-Signatur, die Tauben sich merken und zur Orientierung nutzen. Die Theorie gilt aber als nicht bewiesen. Auch mithilfe der Sterne wird navigiert, auf der Nordhalbkugel zeigt etwa der Polarstern nach Norden. 



Ringeltauben nisten im Garten – eine Brieftaube hatte sich zu uns verflogen und wartete mehrere Tage bei Kost und Logis, bis wir ihren Besitzer gefunden hatten.

Der innere Kompass

Und dann gibt es noch den mysteriösen Magnetsinn der Tiere, den nachweislich so verschiedene Geschöpfe wie Fische, Vögel, Säugetiere und Insekten nutzen. Mysteriös, weil wir immer noch nicht verstehen, wie die Orientierung am Magnetfeld der Erde funktioniert. Aber es gibt eine aufregende Hypothese, die in letzter Zeit durch neue Forschungen Aufwind erhält! Sicher ist, dass der Magnetsinn der Tiere nicht wie eine Kompassnadel funktioniert. Anstelle der Nord-Süd-Polung spüren Tiere die sogenannte Inklination. (Das ist der Winkel, mit dem die (gedachten) Feldlinien des Erdmagnetfeldes an einem bestimmten Ort auf die Erdoberfläche treffen). Am Äquator ist dieser Winkel nahe Null, an den Polen nahe 90°, bei uns irgendwas um 60°. Vögel im Flugsimulator fliegen deshalb auch dann in die richtige Richtung, wenn man das Magnetfeld genau umdreht (also Nord- und Südpol vertauscht), weil die Inklination sich durch nicht ändert. Aber wie „messen“ die Tiere das? 



Lange dachte man, magnetische Komponenten in den Schnäbeln von Tauben gefunden zu haben, das erwies sich aber als falsch. Außerdem ist bekannt, dass der Magnetsinn offenbar lichtabhängig ist, auch wenn nur sehr wenig Licht benötigt wird, wie etwa bei Nachtflügen. Das hat zu der Hypothese geführt, dass Licht eine molekulare Reaktion bewirkt, bei der ungepaarte Elektronen entstehen. Diese Reaktion läuft in Strukturen ab, die man unter anderem in Augen von Vögeln gefunden hat (Cryptochrom). Freie Elektronen haben eine Ladungsrichtung, den Spin, der in eine von zwei Richtungen weisen kann. Zwei solcher ungepaarten Elektronen beeinflussen sich gegenseitig und „tanzen“ für Millisekunden zwischen den beiden Zuständen hin und her. Dieser „Tanz“ wird durch elektromagnetische Felder beeinflusst, auch durch sehr schwache. Jüngste Forschungen legen nahe, dass das Magnetfeld der Erde den lichtinduzierten Elektronen-Spin-Tanz beeinflussen könnte. Obwohl es sehr schwach ist: 25.000 nanoTesla (nT) am Äquator, 70.000 nT an den Polen. Ein Kühlschrankmagnet hat – zum Vergleich – 10.000.000 nT.

Unbemerkte Massenmigration

Wenn über die Vogelwanderung noch Vieles unbekannt ist, wissen wir über die Milliarden von Langstrecken-wandernden Insekten fast gar nichts. Millionen von Distelfaltern fliegen in mehreren Generationen jedes Jahr von Nordafrika bis nach Nordeuropa, getragen von Wind, aber durchaus orientiert – vermutlich mit Hilfe eines Sonnenkompasses. 



Einen Distelfalter (Vanessa cardui) habe ich bei uns nur ein einziges Mal getroffen – vielleicht hat ihn ein Sommerwind vom Kurs abgeblasen.

Die Hausmutter fliegt nachts und orientiert sich am Mond und den Sternen, wie Wissenschaftler schon 1979 feststellten. Brandneue Forschungen legen den Verdacht nahe, dass Lichtverschmutzung sie dabei auch außerhalb des eigentlichen Lichtkegels massiv stört.

Hausmutter (Noctua pronuba) nach ihrem Ableben im Badezimmer. Die farbigen Hinterflügel bleiben sonst meist verborgen.

Die Gammaeule fliegt in wenigen Nächten 1000 km, bei günstigem Wind erreicht sie 90km/h. In den ersten Nächten nach dem Schlupf fliegt sie quasi „durch“, während ihre Geschlechtsorgane reifen. Sobald sie bereit für die Paarung ist, bleibt sie. Steht der Wind allerdings ungünstig, steigt sie aus der Flughöhe ab – sie weiß also genau, wo sie hin will. Wie ist ungeklärt, Forschende vermuten den Magnetsinn. 



Eine Gamma-Eule (Autographa gamma). Diese Eulenfalter schwirren Abends gern an den sich öffnenden Nachtkerzen vorbei.


Über die Massenwanderungen der Insekten ist noch extrem wenig bekannt – obwohl sie für die Stabilität vieler Ökosystem essentiell sind. Ein regelmäßiger Gartengast, die Hainschwebfliege, wandert im Herbst über die Pässe der Alpen oder der Pyrenäen um in Südeuropa zu überwintern. Sie erreicht dabei Flughöhen von bis zu 2000m. Es sei denn, der Wind steht ungünstig- dann fliegt sie dicht über Land. 



Eine Hainschwebliege (Episyrphus balteatus) und eine Gemeine Feldschwebfliege (Eupeodes corollae). Diese beiden gehörten zu den häufigsten Insekten, die an einer Zählstation über einem Pyrenäenpass erfasst wurden. Milliarden Schwebfliegen pendeln jährlich allein zwischen dem europäischen Festland und Großbritannien. Kein Wunder, dass sie auch schon im Garten Rast gemacht haben.

4 Milliarden Insekten-Pendler haben Wissenschaftler an einem einzigen Pass gezählt. Die Forschung zu diesen riesigen Wanderungen, bei denen tonnenweise Biomasse bewegt werden, hat gerade erst begonnen. Milliarden Schwebfliegen wandern über Kontinente – und wir wissen kaum etwas über ihre Routen und Rastplätze! Klar ist aber: Die Einrichtung einzelner Naturschutzgebiete nützt wenig, wenn die Wanderwege der Tiere unterbrochen sind oder ihre Navigation gestört wird.



Die Kraniche rasten nachts in den Hemmerder Wiesen, weil sie sich hauptsächlich an Landmarken orientieren. Bei Nebel und Dunkelheit verfliegen sie sich. Mein Glück, dass ich den vielen diesjährigen Erstfliegern viel Glück wünschen durfte. Viele von ihnen werden im Frühling mit ihren Eltern zurück kommen, obwohl sie erst in einigen Jahren selbst brüten. Teenager brauchen offensichtlich auch in der Kranichwelt etwas Anleitung, um den richtigen Weg zu finden.

Noch viel mehr zu den Orientierungsleistungen der Tiere – von der Koppelnavigation der Ameisen über die Schallnutzung der Meeressäuger bis zu den verschiedenen Wegzeichen, die Meeresschildkröten nutzen lest ihr hier.

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