Im Frühsommer war ich schwach geworden: Facebook hatte nach Analyse meiner Surfgewohnheiten messerscharf auf ein Interesse an Viehzeug im allgemeinen und Insekten im besonderen geschlossen und bot mir mit bewundernswerter Penetranz ein „Schwalbenschwanz-Kit“ zur Aufzucht von eigenen Schwalbenschwänzen an. Seit zwei Jahren wuchert in meiner Küche kaum verwendeter Gewürz-Fenchel im Hochbeet- als Einladung an den Schwalbenschwanz. Ich checkte also die Firma (existent und schon ein paar Jahre am Markt) und bestellte für 40 Euro eine Pappschachtel mit etwas Plastikmüll, „Spezialfutter“ und drei Raupen. Angeblich sollte die Lieferung wenige Tage dauern. Nach mehr als 2 Wochen erhielt ich auf Nachfrage Vertröstungen, Tage später kam der Kit an – mit 3 toten, eingetrockneten Raupen. Als Ersatz bot man mir Kohlweißlinge an… Auf eine Erstattung habe ich nach vielen Nachfragen bei schleppender Kommunikation bis Oktober gewartet – ich muss davon leider abraten.
Schmucker „Schädling“
Kohlweißlinge (Pieris rapae) habe ich ja selbst reichlich im Garten – und in diesem Jahr auch den Kohl dazu: Eine Neuzüchtung namens Sprossenbrokkoli (Brassica oleracea var. italica) kämpfte in meinem Hochbeet gegen Hitze und temporäre Trockenheit – mit dem Gießen kam man ja kaum hinterher. In letzter Zeit sahen die dürren Pinne zudem ziemlich zerfressen aus: Und siehe da: Eine ganze Hand voll dicker grüner Raupen ließ sich absammeln – und als Nachwuchs des kleinen Kohlweißlings bestimmen. Und nun? Meinen ohnehin spärlich gewachsenen Kohl mochte ich nicht länger mit ihnen teilen. Und die „SmartBugs“-Leute hatten darauf verwiesen, Kohlweißlinge seien für Anfänger zur Zucht geeignet. Anstatt die Raupen auf dem Kompost ihrem tödlichen Schicksal zu überlassen, siedelte ich sie also kurzerhand in ein größeres Gefäß mit Glaswänden um, und fütterte sie mit von mir ausgewählten Kohlblättern. Das Glas musste ich täglich reinigen, die Verdauung der Raupen schien unter der Gefangenschaft nicht zu leiden.
Die Körperfresser sind real!
Schon nach wenigen Tagen wurden einige Raupen ziemlich phlegmatisch. Eine klebte sich unter dem Schraubdeckel fest. Andere lagen auf den Blattrippen. Bei der täglichen Begutachtung trennten sich bald Gewinner und Verlierer des unbarmherzigen Überlebenskampfes im Garten: Die Blattlieger schienen übernacht „explodiert“ zu sein und lagerten jetzt schützend über einem gelblichen Gespinst duzender Puppen – zunächst noch lebend. Die Tierchen waren noch im Beet von einer Brackwespe angestochen worden. Es gibt spezialisierte Kohlweißlings-Brackwespen, etwa Cotesia rubecula, die besonders den kleinen Kohlweißling parasitiert. Ihre Eier hatten sich im inneren der Raupe zu kleinen Maden entwickelt, die sorgsam um die lebenswichtigen Organe des Wirtes herumgefressen hatten – bis es Zeit zur Verpuppung wurde. Dann nagten sie mit spitzen Zähnen Löcher in die Raupenhaut und spannen sich reiskorngroße Kokons – welche die tödlich verletzte Raupe großzügig mit einer schützenden Seidendecke überspann. Sie macht das nicht ganz freiwillig – die Wespen haben einen Virus mitgebracht, der die Zombieraupe fremdsteuert. Die Entwicklung der Brackwespen schien mir trotz ihrer Gruseligkeit spannend genug, um das bauschaumartige Kokongebilde, welches überdies sehr anschaulich an die Glaswand geklebt war, in Frieden zu lassen. 12 Tage später schlüpfte die Next Generation der Körperfresser.
Schlafende Drachen
Die an der Decke klebenden Raupen dagegen verwandelten sich buchstäblich über Nacht von einer grün-gelben Raupe mit winzigen Häärchen in ein kompliziert geformtes Gebilde, das mich spontan an schlafende Drachen erinnerte (Seht ihr das auch?). Jedenfalls nicht zu vergleichen mit den tönnchenförmigen Puppen von Fliegen. Die frischen Puppen waren hellgrün und färbten sich in den folgenden Tagen immer weiter aus. Nach 10 Tagen konnte ich die Zeichnung der Flügel deutlich durch die jetzt transparente Puppenhaut schimmern sehen. Ich stellte die Plastikbox mit den Puppentaschen auf meinen Schreibtisch, um den Schlupf nicht zu verpassen. Und tatsächlich: Von einer Sekunde auf die andere war die Puppenhülle eingerissen und der neue, noch reichlich verknitterte Schmetterling frei. Er (oder sie) krabbelte sofort an der Kletterhilfe hoch, um die feuchten Flügel zu entfalten und trocknen zu lassen. Während dessen „probte“ der Frischling das Ein- Und Ausrollen des Rüssels und musterte mich mit seinen neuen, gefleckten Facettenaugen. Danach ist er (glaube ich) mit hängenden Fühlern erstmal ein halbes Stündchen eingepennt. Sobald die Flügel trugen, flatterte der frische Falter davon – so schnell, dass ich nicht mal ein Foto hinbekam.
Das Rätsel der Metamorphose
Über die rätselhafte Entwicklung holometaboler Insekten (wie der Schmetterlinge) schrieb ich ja schon einmal. Die kleine Raupenzucht nötigte mir aber auch jenseits der wunderbaren Verwandlung Respekt ab: Die perfekte Tarnung von Raupe und Puppe, die Werkstoffe! Die Puppenhülle ist offenbar dicht genug, um ein Vertrocknen der Schmetterlingssuppe in ihrem Inneren zu verhindern – auch bei knapp 30 Grad im Schatten. Viele Falter überwintern als Puppe und liegen 9 Monate in ihrem „Schlafsack“ aus Naturmaterialen. Sie ist stabil genug, um meine kleinen Übergriffe zum Fotografieren und Umsetzen in ein anderes Gefäß unbeschadet zu überstehen, aber gleichzeitig so praktisch konstruiert, dass der Schmetterling sie ohne große Mühe aufreißt und verlässt. Gelernt habe ich noch, dass es bei den Faltern Stürzpuppen gibt, die kopfüber hängend festgeklebt werden und Gürtelpuppen, die am Ast festgehakt und dann mit einem „Gürtel“ gesichert werden, so dass sie an einem Ast oder ähnlichem „stehen“. Einige Falter verpuppen sich am Boden, in der Erde oder in einem selbst gesponnen Kokon. Einen Überblick mit tollen Fotos von wunderschönen Schmetterlingspuppen heimischer Falter gibt es hier – es ist mir wirklich schleierhaft, wie es Menschen gelingt diese gut verborgenen Kunstwerke in der Natur aufzuspüren!
Nicht alle Raupen überlebten mein kleines Experiment, aber die ersten Falter sind bereits in den Sonnenschein entlassen worden. Die Raupen schmecken Vögeln nicht besonders, weil sie mit dem Kohl dessen scharfe Senföle aufnehmen. Trotzdem werden in der Natur nur wenige Räupchen zum Falter – mein Schutz dürfte ihre Überlebenschance erhöht haben. In der Natur fliegt noch die dritte/vierte Generation von Kohlweißlingen und legt auch im September noch Eier ab – meine Schützlinge haben also alle Chancen ihren Lebenszyklus zu beenden. Ein paar ausgemergelte Kohlblätter waren ein geringer Preis, um das Wunder der Metamorphose auf der Fensterbank zu beobachten, ich kann meinen Mitbewohner des Monats als Hausgast also uneingeschränkt empfehlen.