In einer alten Winterjacke fand ich die kleine Wabe eines Wespennestes wieder, die mir im November auf dem Sportplatz vor die Füße wehte. Federleicht, formstabil und von bewundernswert präziser Symmetrie, so ein Nest aus Papier. Im Sommer konnte ich die Deutsche Wespe regelmäßig beobachten- und belauschten – wie sie mit kräftigen Mandibeln das leicht verwitterte Holz vom Schaukelgerüst knabberte. Wespen können schon sehr viel länger Papier machen als wir – mindestens 65 Millionen Jahre. Holzreste zur Papierherstellung zu verwenden haben Menschen sich erst neulich von den Wespen abgeschaut: Der Deutsche Gottlob Keller stellte (erst!) 1844 eine Maschine fertig, die Fichtenholz zu Zellulose zerfaserte. Bis dahin brauchte man (teure) Leinenlumpen zur Papierproduktion. Der Prozess ähnelt dem, was die Wespen tun: Unter Druck und Zugabe von Flüssigkeit wird das Holz in Cellulose-Fasern zerlegt.
Recycelter Baustoff
Wespennestpapier ist meist grau – es entsteht aus verwittertem Holz. UV-Strahlung hat am Schaukelgerüst das Lignin der obersten Holzschicht zerlegt. Die übrig bleibende Zellulose ergibt ein graues, widerstandsfähiges Papier, gut geeignet um der Witterung standzuhalten.
Hornissen und die Gemeine Wespe nutzen dagegen lieber morsches Holz. Hier wurde die Zellulose durch Mikroorganismen abgebaut, übrig bleibt eine recht weiche, braune Masse mit hohem Lignin-Anteil. Diese Fasern zur Papierherstellung sind kürzer und weniger stabil, die Nester also weniger widerstandsfähig. Hornissen bauen daher meist in Hohlräumen, gerne in Bäumen, wo das Nest von außen geschützt ist. Die Gemeine Wespen nutzt gerne Mauselöcher im Erdboden, oder auch Rolladenkästen und Dachböden.
„Mein“ gefundenes Wespennest aus der Jackentasche ist eine einfache, freie Wabe und gehörte damit einer Feldwespenart. Es steckte vermutlich in dem hohlen Handlauf um den Platz und war in dem Metallrohr gut geschützt gegen Regen und Sturm.
Andere Wespenarten bauen ihre Waben mehrlagig, mit Stützpfeilern aus stabilerem Papier zwischen den Waben. Darüber hinaus umschließen sie das Nest mit einer mehrschichtigen Hülle, die zur Isolation und möglicherweise auch zum Schutz vor kleineren Fressfeinden dient. Diese Hülle hat – je nach Funktion- zusätzlich wasserabweisende Eigenschaften. Wie koordinieren die Wespen das alles? Wer hat beim Nestbau die Kappe auf?
Die Intelligenz des Schwarms
Einige Forscher meinten im Nestbau sozialer Insekten ein Prinzip zu erkennen, bei dem das einzelne Tier ein Teil eines Superorganismus wird. Die Individuen seinen demnach lediglich Teile einer größeren Funktionseinheit, etwa wie die Zellen eines Organs im menschlichen Körper. Das entspräche etwa dem Yrr aus dem Erfolgsthriller „der Schwarm“: Eine übergeordnete Intelligenz, die das Verhalten der einzelnen Individuen steuert.
Rückkopplung statt Mystik
Anderen war diese Erklärung zu esoterisch. 1959 erläuterte der französische Biologe Pierre-Paul Grassé einen anderen Entwurf und erfand dafür direkt einen Fachbegriff: Stigmergie. Danach werden die Handlungen der Arbeiterinnen beim Nestbau schlicht durch das bereits Erschaffene stimuliert. Eine bestehende Wabe stimuliert also den Anbau einer neuen Wabe. Zwei Waben stimulieren die Errichtung einer weiteren Wabe, und zwar so, dass möglichst wenig Wände dafür benötigt werden. Forschende haben das Konzept mit immer leistungsfähigeren Computermodellen überprüft und konnten zeigen, dass damit Neststrukturen erreicht werden, die den tatsächlich gefundenen Bauten ähneln. Die Wespen, Ameisen, Bienen und Termiten bauen ihre teils komplizierten und mit verschiedenen Funktionseinheiten versehenen Nester ohne zentralen Plan oder direkter Kommunikation unter den Arbeitseinheiten. Alle folgen einfach nur den gleichen Regeln – jeder für sich. Meistens halten sie sich daran – das ist die Voraussetzung. Für die Stadtplanung würde ich daher lieber nicht auf menschliche Stigmergie setzen. Kann man trotzdem daraus lernen? Kollaboratives Lernen basiert auf einem ähnlichen Prinzip. Und in vielen Bereichen wird an Anwendungen geforscht, etwa der Steuerung von Robotern, die im Kollektiv aufeinander reagieren könnten.
Meine Wespen tragen die entsprechenden Algorithmen seit Millionen Jahren in sich. Ihre verlassenen Nester sind ästhetische Anschauungsobjekte für die Effektivität des größten selbstlernenden Systems auf der Erde: Evolution