Winter im Garten. Leider nicht so ein idyllischer „Landlust-Winter“ mit Schnee, der auf den anmutig in den Himmel ragenden Fruchtständen der Stauden wattige Hütchen bildet – sondern kalter Matsch und glitschige Laubhaufen, die den Rasen zu ersticken drohen. Ich nutze die Regenpausen, um sie in geeignete Gartenecken umzuschichten, wo sie vielleicht einem Mitbewohner als Winterlager dienen können. Leblos ist der Garten allerdings auch jetzt nicht.
Meine kurzen Arbeitseinsätze werden neugierig beobachtet. Ich weiß nicht, wie viele Augen mir aus sicheren Verstecken folgen, aber zumindest ein Gartenbewohner scheint meine Nähe regelrecht zu suchen. Das Rotkehlchen (Erithacus rubecula) begleitet mich unerschrocken in die verschiedenen Gartenbereiche. Ich würde mir gern einreden, dass ich mir mit meinen zuverlässigen Futterspenden seine Sympathie erkauft habe. Aber ich weiß es natürlich besser. Rotkehlchen sind bekannt dafür, nahbar und neugierig zu sein. Und dann sind sie auch noch hübsch, mit ihrer roten Brust, irgendwie weihnachtlich dekorativ. Kein Wunder, dass sie zu den beliebtesten (und bekanntesten) Gartenbewohnern gehören. In Großbritannien hat die Bevölkerung „the robin“ zum National Bird gewählt. Ich muss zugeben, dass ich dem kleinen Wintervogel ebenfalls freundschaftliche Gefühle entgegen bringe. Nach einem unserer gemeinsamen Gartennachmittage fand ich, es sei Zeit, meinen gefiederten Freund etwas näher kennen zu lernen – und bestellte mir ein Buch.
„The Life of the Robin“ ist ein Klassiker der wissenschaftlichen Populärliteratur von 1941. Schon seine Entstehung ist eine eigene Geschichte und die wunderbaren Zeichnungen eines gewissen Robert Gillmor, die ich mich hier nicht traue zu zeigen, um keine Urheberrechtsverletzungen zu begehen, belohnen für die Mühe, ein englisches Sachbuch zu durchforsten, anstatt sich dem Sog eines packenden Romans hinzugeben.
So niedlich wie aggressiv
Ich weiß nicht, ob ihr gelegentlich Menschen immer unsympathischer findet, je besser ihr sie kennenlernt? Eigentlich sollte es ja anders herum funktionieren. Also mein möglicherweise etwas romantisierender Blick auf das Rotkehlchen hat sich beim Lesen jedenfalls gewandelt. Zuerst einmal musste ich einsehen, dass mein kleiner Freund wahrscheinlich in Wahrheit mehrere Freunde sind, denn ich wohne schon 10 Jahre in meinem Garten, und das Rotkehlchen auch. Ich ging selbstverständlich davon aus, dass es sich immer um denselben Vogel handelt. Mit einer gewissen Enttäuschung nahm ich zur Kenntnis, dass Rotkehlchen zwar einige Jahre alt werden können (allerhöchstens 8), ihre durchschnittliche Lebenserwartung aber nur knapp 2 Jahre beträgt, viele sterben im ersten Lebensjahr. Soviel zum „vertrauten“ Umgang miteinander.
David Lack – so hieß der Autor der Rotkehlchen-Monographie – hat wirklich sehr viel Zeit mit den Vögeln verbracht und akribisch alle Beobachtungen dokumentiert. So kann man ihm glauben, dass die hübsche rote Brust und der liebliche Gesang keine liebevolle „Werbung“ um die Angebetete sind, wie man meinen könnte. Stattdessen fungieren sie als Kriegsgesang – und Kriegsbemalung. Rotkehlchen verteidigen ihr Revier buchstäblich bis aufs Blut, wenn es sein muss. Meistens reichen die Stimme und Drohgebärden mit dem signalroten Körper um einen Eindringling zu vertreiben. Es ist mir tatsächlich schon aufgefallen, dass oft mehrere, auch verschiedenartige Meisen um das Futterhaus wuseln, aber immer nur ein Rotkehlchen. Sie dulden sich gegenseitig nicht – wobei es in strengen Wintern Ausnahmen gegeben haben soll.
Wenn ein Rotkehlchen in der Dämmerung den neuen Tag herbeizwitschert, handelt es sich also nicht um eine Hymne an die Liebe, sondern an den Kampf: Männchen und Weibchen haben feste Reviere, die täglich verteidigt und markiert werden wollen.
Äußerlich sind Hahn und Henne kaum zu unterschieden, beide kämpfen Revierkämpfe, beide singen – die Weibchen allerdings nur bis sie sich mit einem Partner zusammen getan haben. Dazu verlässt das Weibchen ihr Revier, das Nest baut sie alleine, auch das Brüten ist ihr Job – das Männchen schafft immerhin Futter heran. Die Partnerwahl findet jedes Jahr neu statt – nach der Brut gehen die Eltern wieder getrennte Wege.
Lebensfreundliche Unordnung
Ich ging davon aus, Rotkehlchen würden vorzugsweise in den Bäumen und Büschen nisten, tatsächlich bauen sie häufig in Bodennähe. Dafür braucht es eine Ecke im Garten, wo nicht aufgeräumt wird, und diesen Ort hinter der Gartenhütte gilt es also als Schutzzone gegen Aufräumwütige zu verteidigen, wenn ich meinen Gartenbegleiter behalten will. Schon ab Februar fertigen die Vögel ihr Nest, also lange bevor mein gefühlter Frühling beginnt. Es wäre also gut, Büsche und Hecken vorher zurecht zu stutzen, und das habe ich mir vorsichtshalber schon mal als Erinnerung in den Kalender geschrieben. Ein wenig Rotkehlchen-Wellness werde ich auch noch anbieten: Die Vögel baden täglich, auch im Winter, zur Not auch auf Eis. (Ein weiterer häufiger Rotkehlchentod ist Ertrinken, wer hätte das gedacht?) Also werde ich die bereits eingelagerte Vogeltränke etwas in den Schutz der Hecke rücken und wieder befüllen, da können auch Nichtschwimmer baden.
Warum eigentlich die Eile mit der frühen Brut? Die kleinen Sänger schaffen tatsächlich zwei Aufzuchten in der Saison. Respekt! Durchschnittlich 6 Kinder in der Frühjahrsbrut und 4-5 in der Sommerbrut wollen versorgt und beschützt werden. Mehr als die Hälfte überlebt allerdings das erste Jahr nicht. Ich wusste nicht, dass Mausefallen eine recht häufige Todesfalle für die neugierigen Rotkehlchen sind. Darüber hinaus waren laut einer britischen Untersuchung ein Drittel der tot gefundenen Rotkehlchen durch Hauskatzen umgebracht worden. Damit haben die freilaufenden Stubentiger, die unseren Sandkasten regelmäßig als Toilette missbrauchen, einen weiteren Minuspunkt in meiner Gunst gesammelt und müssen sich darauf einstellen, bei Sichtkontakt rüde verjagt zu werden.
Unter Räubern
Einen anderen Fressfeind der Rotkehlchen hoffe ich dagegen gern mal wieder in meinem Garten zu treffen: Eine „unserer“ Ringeltauben (Columba palumbus) war gegen die Glasscheibe geflogen und wurde Opfer des Sperbers (Accipiter nisus). Der wunderbar gezeichnete Raubvogel ließ sich mit seiner Beute auf einer der Mülltonnen nieder, um penibel Fleisch und Federn zu trennen und konnte von der ganzen Familie dabei beobachtet werden. Vor wenigen Tagen zierte dann ein neuer Taubenabdruck die Fensterscheibe fast exakt an der gleichen Stelle. Die tote Taube lag etwas entfernt auf dem Rasen. Wir widerstanden dem Reflex, sie direkt zu entsorgen und überließen sie der Nacht… Am nächsten Morgen war die Taube – bis auf einen Flaumring gerupfter Federn – verschwunden. Seitdem frage ich mich, ob der Raubvogel unser Fensterglas vielleicht absichtlich zur Taubenjagd einsetzt. Also Vogel hochjagen, vor die Scheibe ballern lassen und dann „einsammeln“? Gibt es das? Beim Laubharken fand ich –beobachtet von einer einsamen Ringeltaube auf dem Nachbardachfirst- jedenfalls außer einer Taubenschwinge auch ein Singvogelbein. Der winterliche Garten ist weder idyllisch noch leblos. Aber lebensgefährlich, wie zu jeder Jahreszeit ;-).
Toller Artikel, informativ und sehr sympatisch geschrieben.