Wo wohnt die Erinnerung?

In Michael Endes unendlicher Geschichte liegen Erinnerungen als fragile Glasbilder tief verborgen in der Erde wie die Abdrücke längst vergangener Lebewesen als Fossilien in der Grube Messel. Aber in welcher Form werden Erinnerungen jenseits von Phantasien abgelegt? Hat eine Erinnerung eine physische Erscheinung?


Als ich kürzlich das Wort „Engramm“ lernte, entstanden Verbindungen zwischen meinen Nervenzellen. So hab ich das in der Schule gelernt: Nervenzellen und Hirnstrukturen ändern sich physisch, wenn wir neue Eindrücke verarbeiten. Diese physiologischen Strukturen, die eine Reizeinwirkung im Gehirn hinterlässt, nennt man Engramm, die kleinste Einheit der Erinnerung quasi. Wenn Du bis hier gelesen hast, ist schon ein neuer Trampelpfad in Deinem Gehirn entstanden. Diese Vorstellung beherrscht als „synaptisches Modell“ seit langer Zeit unsere Vorstellung davon, wie Lernen und Gedächtnis funktionieren. Es hat allerdings Grenzen. Wie geht beispielsweise Lernen, wenn keine Neuronen und Synapsen zur Verfügung stehen?

Die Raupe des Tagpfauenauges (Aglais io) kurz vor der Verpuppung, im Hintergrund eine frische Puppe. Die Puppenhülle ist schon unter der Raupenhaut, welche aufreist und herabfällt.
Hat die Raupe den Kopf verloren? Das Kopfteil mit Augen und Mundwerkzeugen ist Teil der Raupenhaut und fällt ab. Ein Teil der Erinnerungen-tragenden Zellen bleibt aber intakt und überlebt den Komplettumbau in der Puppe.

Kann die Puppe träumen?
Damit kommen wir endlich zu meinen Tagpfauenaugen, die letzten September aus einer Handvoll Raupen geschlüpft sind, welche ich damals vor einer herannahenden Motorsense in meine Handtasche und später in ein Aufzuchtgefäß rettete: Die Raupen hatten bereits umfassende Erfahrungen gesammelt, bevor sie sich verpuppten. Welche das konkret waren, ist Spekulation, aber sie wussten schon, dass Regen nass ist, wie Brennnesseln schmecken und ähnliche raupenwichtige Details. Nach der Puppenruhe „verwandeln“ sich die Raupen in einen Falter mit einem ganz neuen Körper – und ich schrieb an anderer Stelle schon einmal, dass dabei nur ganz wenige der früheren Zellen erhalten bleiben. Das meiste der Raupe lwird zerlegt und entsteht später aus den Bausteinen komplett neu. Das betrifft auch das Nervensystem: Es gibt kein Raupengehirn, das die Metamorphose überlebt und später im Schmetterling weiterarbeitet. Nach dem gängigen Modell dürfte sich der Falter also an nichts erinnern, was er als Raupe erlebt hat.

Frische Puppe des Tagpfauenauges Aglais io.


Haben Schmetterlinge Kindheitserinnerungen?

Die große Frage lautet also: Kann ein Schmetterling auf Erfahrungen zurückgreifen, die er als Raupe gemacht hat? Gewiss hat er so einiges über Brennnesseln gelernt, was mindestens den weiblichen Faltern bei der Eiablage nützlich sein könnte.

Frisch geschlüpftes Tagpfauenauge (Aglais io) mit der Erinnerung an den Geruch von Brennesseln.


Kurz gesagt: Ja! Holometabole Insekten haben in einzelnen Versuchen gezeigt, dass sie als Larve bzw Raupe erlerntes Verhalten über das Puppenstadium retten und als erwachsenes Insekt noch anwenden können. Zusammen mit anderen Beobachtungen an Tierarten, die gar kein komplexes Nervensystem haben, aber dennoch lernfähig sind, begründen sie ein zweites Modell für die Natur der Engramme: Danach würde eine Erinnerung molekular abgelegt und zur Archivierung im Zellkern gespeichert. In bestimmten Würmern konnte man erlerntes Verhalten sogar „verfüttern“ und zwar mit RNA, die von zuvor trainierten Individuen stammte und dann extrahiert und an „ungelernte“ Artgenossen verfüttert wurde. Die Forschenden diskutieren gerade, wie beide Modelle zu vereinen seien – auch vor dem Hintergrund der Evolution. Denkbar wäre, dass molekulare Mechanismen zuerst entwickelt wurden. sie sind zwar schwerfällig, haben aber dafür lange Bestand und funktionieren auch in einzelligen Organismen (wie Schleimpilzen). Für Lebensformen, die schneller auf Umweltreize reagieren und sich und ihr Verhalten daran anpassen mussten, um überleben zu können, war die Entwicklung neuroyaler Netze und ihrer Lernfähigkeit eine wichtige Innovation. Wahrscheinlich verfügen sie aber weiterhin über zusätzliche Wege, Erinnerungen zu speichern, etwa mittels Veränderung an der DNA durch Methylierungen (Epigenetik). Eines Tages werden wir vielleicht wissen, aus welchem Stoff die Erinnerungen sind, die wir sammeln.



Und meine Tagpfauenaugen? Erinnern sie sich an ihr früheres Ich? Haben sie in der Puppe ein „Bewusstsein“? Genießen Sie ihren ersten Flug, oder vermissen sie das gefräßige Leben als Raupe? DAS werden wir wohl so bald nicht herausbekommen.

In diesem Kasten durften die geretteten Raupen sich verwandeln. Nur eine war von einem Parasiten befallen- aus ihr seilte sich eine Larve ab, die sich später in einem schwarzen Tönnchen verpuppte und zu einer Raupenfliege (Sturmia Bella) wurde:

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