Als ich beschloss, die Bewohner meines Gartens näher kennen zu lernen, um sie – im Idealfall- mit ihrem vollen Namen ansprechen zu können, fiel mir als erstes meine Ahnungslosigkeit in Sachen Systematik vor die Füße. Seit hunderten von Jahren haben sich Wissenschaftler geradezu verbissen damit beschäftigt, die belebte Natur in ein Ordnungssystem zu sortieren. Wer mich kennt weiß, dass mich die scheinbar lustvolle Beschäftigung mit dem Sortieren von Dingen oder Zahlen eher ratlos zurück lässt. (Was ist in Marie Kondos Kindheit eigentlich schief gelaufen?).
Ordnung ist ….. manchmal hilfreich
Will man allerdings herausfinden, welche Art von Insekt gerade vor der Kamera krabbelt, oder welches „Unkraut“ seine Blüten der Sonne im Garten entgegenreckt, kann man unmöglich ALLE heimischen Arten von Krabbeltieren oder krautigen Pflanzen durchsuchen. Man BRAUCHT eine Ordnung, damit man eine Schublade hat, in der man die Suche beginnt. (Ganz wie im echten Leben landet man dann gelegentlich in einem ganz anderen Schrank, aber das ist eine andere Geschichte).
Diese Ähnlichkeit – seid ihr verwandt?
Systematik ist allerdings – nun ja – ein trockenes Feld. Es geht um Details. Die beteiligten Experten streiten sich oft seit vielen Jahren, neuerdings mit Hilfe genetischer Analysen. Theoretisch ist es ganz einfach: Klasse, Ordnung, Familie – und von da schafft man es vielleicht bis zu Art. Bei den Krabbeltieren lautet die erste Frage: Hat es sechs Beine? Dann gehört es zur Klasse der Insekten. Der nächste große taxonomische Treppenabsatz wäre die Ordnung. Also beispielsweise „Schmetterlinge“, oder „Käfer“. Auf dieser Stufe scheitern schon die ersten Betrachter an der Entscheidung, ob es sich um etwas „Bienenartiges“ (Hautflügler) oder etwas „Fliegenartiges“ (Zweiflügler) handelt. Wanzen werden oft bei den Käfern vermutet. Die zugehörige Ordnung der Schnabelkerfen lernte ich erst bei der Wanzenrecherche kennen. Und von dort stand ich plötzlich in einem ganz neuen Stockwerk, um kurz bei der Treppenhaussymbolik zu bleiben. Hunderte Türen, und ich hatte noch keinen einzigen der Bewohner jemals gesehen. Ich hatte schon eine Reihe von AHA-Momenten seit Beginn dieses Blogs – aber das war vielleicht der Größte.
Ein unentdecktes buntes Volk
Ich rede gerade von Zikaden. In meinem Garten! Ich wusste natürlich, dass es Zikaden gibt. Sie laufen einem in der fiktionalen Literatur regelmäßig als hitzeschwangere Geräuschkulisse über den Weg, bzw. die Buchseite. Hier zum Beispiel in einem Gedicht des Malers Paul Klee:
„Da riefen an mir vorbei die Orte
alter dunkelsüßer Heime,
wo ich des Nachts
dem Lied der Zikade lauschte,
einsam und heimlich
unter dem duftatmenden Holunder.“ (Paul Klee, 1901)
Unsere heimischen Zikaden sind allerdings ziemlich klein, einige sogar ausgesprochen winzig, außerdem singen sie nicht. Das Makro brachte mich diesen unbekannten Gartenbewohnern näher – und ich staune noch immer über ihre tollen Farben und Muster. Es war gar nicht so leicht, mehr über die heimischen Zikaden zu lernen – sobald man sie googelt, landet man ständig auf Seiten zur „Schädlingsbekämpfung“ weil sie an Pflanzen saugen und dabei unschöne helle Flecken hinterlassen. So gezeichnete Kräuter verkaufen sich schlechter, und bei starkem „Befall“ können die Mitesser die Pflanze in ihrem Wachstum bremsen. Trotzdem schade, wenn es nur über die „Schadwirkung“ etwas zu schreiben gibt. In Deutschland gibt es über 600 Zikadenarten. Ein paar hab ich in meinem Garten schon entdeckt und mit Hilfe eines Buches, welches mein Gatte als „Nerdlektüre“ bezeichnete, provisorisch bestimmt. Also ohne Gewähr.
Schaumzikaden haben eine besondere Kinderstube erfunden: Die Larve pustet dazu Luft in ein eiweißreiches Sekret, dass sie extra zur Schaumerzeugung ausscheidet. Der Schaum hält feucht und die Temperatur gleichmäßig, außerdem schreckt er Fressfeine ab. Der Schaum ist so stabil, dass er einen Regenschauer problemlos übersteht. Respekt. Mein Eischnee fällt immer schon zusammen, wenn ich ihn falsch ansehe…
Die Farbe ist variabel. Ansonsten sind sie Sprungweltmeister (hochgerechnet auf ihre Körperlänge von knapp einem halben Zentimeter): Sie können 70 cm hoch springen. Und laufen, und fliegen. Außerdem trommeln, um sich mit einem Partner zu verständigen. Die Frequenz ist allerding sehr niedrig und außerhalb unseres Hörsprektrums. Die Schaumzikaden hören die Signale selbst nicht, sie nehmen die Vibration wahr.
Der Star unter den Zikaden: Eine Rhododendron-Zikade (Graphocephala fennahi) . Dabei habe ich gar keinen Rhododendron. Sie ist relativ groß und ungeschlagen bunt. Erwachsene Tiere saugen auch an Efeu oder Ahorn, davon gibt es ja genug bei mir. Eigentlich handelt es sich bei diesem hübschen Gartenbewohner um einen ab den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts eingeschleppten Neubürger.
Diese hübsche Zeichnung erinnerte mich spontan an einen Orientteppich. Damit bin ich offenbar nicht alleine: Das ist die Orientzirpe (Orientus ishidae). Ein Einwanderer aus Ostasien, wobei „Wanderung“ nicht ganz richtig ist, die Tiere wurden eher eingeschleppt.
Das hier halte ich für eine nördliche Strauchzirpe (Fieberiella septentrionalis) aus der besonders artenreichen Familie der Zwergzikaden. Charakteristisch sind hier die „Sommersprossen“.
Das hier könnte eine Dickkopfzikade sein, also eine andere Familie. Ich tippe auf die Hain-Dickkopfzikade (Agallia consobrina). Ein weiterer Gast, der Brennnesseln zu schätzen weiß.
Diese Rebzikade (Empoasca vitis) wird im Weinbau nicht gerne gesehen, weil sie in Massen auftreten kann. Sie mag aber auch Efeu. Es gibt allerdings mehrere sehr ähnliche. Sie überwintert als erwachsenes Tier – die meisten anderen zikadischen Mitbewohner meines Gartens gibt es im Winter nur als Ei.
Die Ligurische Blattzikade (Eupteryx decemnota) ist sehr klein (unter 3 mm), aber sehr hübsch, wie ich finde. Sie ist erst seit etwa 20 Jahren bei uns heimisch und wahrscheinlich auf ihren Lieblingspflanzen eingereist, etwa an Topfkräutern. Bei mir wohnt sie beispielsweise auf Salbei (Salvia officinalis) und Katzenminze (Nepeta cataria).
Eine Verwandte ist die Eibischblattzikade (Eupteryx melissae), hier auf Zitronenmelisse fotografiert. Die Eupterixe sind wie diese „Finde-die-Unterschiede“-Rätsel aus den Büchern meiner Kinder. Die Punkte auf der Stirn können helfen, aber so richtig sicher bis zur Art reicht das nicht.
Und diese halte ich für Eupteryx atropunctata, die bunte Kartoffelblattzikade. Also möglicherweise. Bei mir saß sie allerdings auf den behaarten Blättern einer Kleinblütige Königskerze (Verbascum thapsus), die den Weg in meinen Garten allein gefunden hat.
Dick und braun – den Schönheitspreis gewinnt dieser Vertreter der Käferzikaden nicht. Sie saugt auch an giftigen Pflanzen, wie Efeu, Wacholder oder Eibe. Ich denke, es ist Issus coleoptratus, sie ist eine der größeren Vertreter gewesen, ich schätze knapp über einem halben Zentimeter.
Seit meiner persönlichen Entdeckung der Zikaden bin ich gelegentlich etwas „Taxonomie-Fahrstuhl“ gefahren: Sobald man in der Wikipedia eine Art aufruft, wird einem die zugrundeliegende Systematik mit den verschiedenen „Stockwerken“ angezeigt. Ein Klick, und man erfährt etwas über die „Schublade“ in der man gerade wühlt. Ohrwürmer oder Fransenflügler (Gewitterwürmer) bilden beispielsweise je eine ganze Ordnung. Oder man steigt mal auf dem Stockwerk der „Kamelhalsfliegen“ (die offensichtlich nicht näher mit den typischen Fliegen verwand sind) oder der „Netzflügler“ aus – und schaut, wer da so wohnt…