In diversen Bestimmungsgruppen sorgen immer mal wieder Anfänger für Unmut, die sich beschweren, man möge doch bitte die Deutschen Namen angeben – und dann beleidigt sind, wenn sie von den Experten zurecht gewiesen werden.
Mundart im Elfenbeinturm
Ich persönlich kann mir zwar die wissenschaftlichen Namen mit ihren oft zungenbrecherischen Aneinanderreihungen von Konsonanten trotz eines Diploms in Naturwissenschaften und dem Erwerb des großen Latinums in grauer Vorzeit auch nicht merken – aber ich finde, wenn mir schon jemand meine Naturfotos bestimmt, ist eine anschließende kurze Google-Suche durchaus zu leisten und sollte kein Grund zu Gemaule sein. In Wahrheit geht es nämlich oft um etwas anderes: Unwissende unterstellen den Verwendern der wissenschaftlichen Namen oft einen Hang zu elitärem Angebertum nach dem Motto: „Was, du verstehst kein lateinisiertes Altgriechisch? Was bist du denn für ein Crétin?“
Namen sind Schall und Rauch
Das ist aber ein Missverständnis. Tatsache ist: Eine eindeutige Benennung ist nur mit den wissenschaftlichen Namen möglich (und selbst da gibt es manchmal verschiedene Bezeichnungen). Je populärer oder je weiter verbreitet ein Lebewesen ist, desto mehr Namen hat es in der Umgangssprache. Beispiel Marienkäfer. Der heißt laut Wikipedia unter anderem auch Frauen- oder Gotteskäfer, Läusfresser, Blattlauskäfer, Huppawermel (Hopfenwürmlein), Katharinenkäfer. Glückskäferle, Brautmaneke (Brautmännchen), Sonnenkäfer, in Sachsen Himmelmiezel, Rotkalbl, Bluthienla, Gelbhänschen, Goldschäfchen, Graupelmiezchen, oder Sprinzerl.
Sehr schön auch Motschekiebchen, Mufferküpchen oder Muhküpchen (Thüringen) oder Muhküfchen (Nordhessen), Marienkälbchen, Gotteskälbchen oder Herrgottsöchslein, Olichsvöjelche („Ölvögelchen“) wegen des Reflexblutens oder Flimmflämmche (Niederrhein). Unbekanntere Mitbewohner haben dagegen oft gar keinen deutschen Namen.
Beim Marienkäfer ist das noch irgendwie charmant, den kennt man ja. Aber ansonsten sind Verwechslungen vorprogrammiert, wenn man immer nur die sogenannten „Trivialnamen“ verwendet. Aktuell kann man in meinem Garten ein besonders schönes Beispiel für die Unzulänglichkeit der regional unterschiedlichen Volksnamen beobachten: „Schneider“ oder „Schnaken“ tummeln sich überall im Gebüsch und hohen Gras.
Daddy Long Leg
„Regional werden Schnaken auch als Bachmücken, Pferdemücken, Langbeinmücken, Schneider, Keilhacken, Mückenhengste, Hexen, Schuster, Schnegger, Slak, Schnok, Amel, Emel, Purks, Pock(s), Hemel, Fräter, Sappen oder Kothammel bezeichnet. In Bayerisch-Schwaben sind sie auch als Habergaukler oder Habergock(e)l bekannt“ steht in der Wikipedia. Es gibt aber auch Menschen, die bei „Schneider“ an etwas ganz anderes denken. Auch mit langen Beinen. Viel mehr Gemeinsamkeiten gibt es aber auch nicht: Diese „Schneider“ gehören nämlich nicht einmal zu den Insekten, sondern sind mit den Spinnen verwandt. (Also acht Beine). So richtige Spinnen sind sie aber auch nicht. Gemeint sind Weberknechte, die sich von den Spinnen unter anderem durch einen einteiligen Körper unterschieden. Im Englischen heißen beide Tiere übrigens „Daddy Long Legs“, wobei damit in England meistens die (fliegenden) Schnaken, in den USA die Weberknechte und in Australien echte Spinnen, nämlich Zitterspinnen gemeint sind.
Ein Schwede setzt den Standard
Ich denke, das Problem ist deutlich geworden. Wenn Menschen über die belebte Natur miteinander sprechen wollen, brauchen sie Namen – am besten verbindliche. Carl von Linné hatte schon 1753 erkannt, dass ein eindeutiger Name in einer weltweiten Wissenschaftssprache unverzichtbar ist, und führte daher das System mit „Vor- und Zunamen“, also Gattungsname + Artname ein. Vorher wurde zwar auch oft die Gattung vorangestellt, anschließend folgte aber ein Sammelsurium von verschiedenen beschreibenden Namensbestandteilen. (Das konnte sich nun wirklich niemand merken). Außerdem verwendete jeder Forscher auch die wissenschaftlichen Namen nach Gutdünken. Ein ziemliches Chaos. Es hat nach der Einführung der binären Nomenklatur durch Linnè noch mehr als 150 Jahre gedauert, bis sich die Fachgesellschaften zu verbindlichen Standards durchringen konnten. Man kann annehmen, dass da viel Eitelkeit im Spiel war.
Das Privileg der Taufe
Bis heute darf der Entdecker einer neuen Art ihr einen Artnamen verpassen. Eine Spinnenart wurde nach dem sprechenden Hut in Harry-Potter Eriovixia gryffindori genannt, es gibt eine Miniwespe der Gattung Tinkerbella nana und ein kleiner Käfer wurde 2019 nach der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg Nelloptodes gretae genannt, weil dessen Fühler den Entdecker Michael Darby an Gretas Zöpfe erinnerten.
Das oben im Bild ist, was ICH unter einer Schnake kennen gelernt habe. Eine Wiesenschnake (Tipula paludosa), ein Insekt aus der Ordnung der Zweiflügler. Der Name „Mückenhengst“ ist eine Verwechslung – irgend jemand dachte, das könnten männliche Stechmücken sein. Sie stechen aber überhaupt nicht. Das Weibchen kann nur schlecht fliegen und legt seine Eier in Rasen oder auf Wiesen ab, wo die Larven sich von Graswurzeln ernähren. Da ein makelloser Rasen vielen Gärtnern als unverzichtbar gilt, kann man biologische Schädlingsbekämpfungsmittel gegen Tipula-Larven kaufen. In der Landwirtschaft kommt auch Gift zum Einsatz. Das ist allerdings ein Problem: Die fetten Larven sind wichtiges Vogelfutter, zum Beispiel für die Stare.
Ein anderes „Langbein“ ist dieser Weberknecht (Opilio saxatilis). Weberknechte ernähren sich räuberisch, sie bauen aber keine Fangnetze. Es gibt etwa 40 Arten bei uns. Viele können bei Gefahr ein Bein abwerfen. Es zuckt dann etwas und lenkt den potentiellen Räuber ab – bis der ehemalige Besitzer entkommen konnte. Vor einigen Jahren fanden Forscher einen vor 100 Millionen Jahren in Bernstein konservierten Weberknecht-Penis –eine kuriose Rarität. Im Unterschied zu den Spinnen haben Weberknechte bis heute einen Penis, während Spinnen zwei Pedipalpen besitzen.
Der letzte „Daddy Long Legs“ lebt streng genommen nicht im Garten, sondern hinter der Mauer – in meinem Wohnzimmer. Die Große Zitterspinne ist eine echte Spinne – sie baut etwas unordentliche Netze und fängt verirrte Insekten. Unter einem ihrer Netze fand ich die abgenagten Flügel mehrerer Wiesenschnaken. Spätestens wenn die Netze Staub fangen und grau werden, müssen sie weichen – die Spinne selbst verschone ich aber in aller Regel.
Mit Namen die Welt retten
Wofür sind die Namen – jenseits von akademischer Forschung – überhaupt so wichtig? Ich glaube, dass wir Lebewesen mehr schätzen, die einen Namen haben. Außerdem führt ein Name mit wenigen Klicks zu mehr Informationen. Wer weiß, dass Ohrenkneifer niemals kneifen, aber ihre Kinder liebevoll pflegen, schlägt vielleicht seltener zu. Und wer verstanden hat, dass seine Blattläuse und Wiesenschnaken die Nahrungsgrundlage für hübsche Singvögel bilden, spritzt vielleicht weniger Gift. Wer keine Lust auf Bestimmungsgruppen und Bücher hat, kann sich einfach zum Erstbestimmer erklären – und eigene Namen erfinden. (Wisst ihr noch, wie Bastian Phantasien rettete, indem er der kindlichen Kaiserin den Namen Mondkind gab? Der Name als als Schöpfungsakt…) Dass der Rest der Welt die „Neufrisurente“ Podiceps cristatus nennt, muss man ja nicht zwingend wissen, um sie für ihre Tauchkünste zu bewundern.