Dieses Tier ist so unauffällig, dass es in eine inoffizielle, aber in Vogelforen regelmäßig genannte Kategorie fällt: KBV. Die Abkürzung hat verschiedene Bedeutungen, hier ist gemeint: Kleiner, brauner Vogel. Die Heckenbraunelle ist sozusagen ein ornithologisches Mauerblümchen. Aber wie so oft: Stille Wasser sind (manchmal) tief. Mitte der 80er Jahre des letzen Jahrhunderts hing ein Mann namens Nick regelmäßig im botanischen Garten der Uni in Cambridge ab – um Heckenbraunellen beim Sex nachzuspionieren. Was er dabei beobachtete, schrieb Ornithologen-Geschichte: Prunella modularis lebt die freie Liebe! Erstaunlich daran ist nicht, dass einige Tiere ihren Sexualpartner wechseln (auch innerhalb der Brutsaison) – sondern dass es innerhalb der Art alle möglichen Modelle gleichzeitig gibt: Monogamie, Vielehe oder wilden Gruppensex. Über die Untreue bei Singvögeln schrieb ich schon einmal. Heckenbraunellen setzen aber noch einen drauf- und scheinen damit ihren Bruterfolg sogar zu steigern, wie Nick (Davies) sehr akribisch nachzählte: So füttern die Geliebten „verheirateter“ Weibchen die Brut nur dann mit, wenn sie zwischendurch selbst zum Zuge gekommen sind. Und die so versorgten Küken sind auch tatsächlich besser ernährt. Es gibt aber auch Männchen, die einen Harem von Weibchen beglücken und gemischte Gruppen, die quer durcheinander kopulieren. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise besteht für jede einzelne Art ein festes Paarungsmuster.
Vom Staunen zum Wissen
Wie kam ich denn nun ausgerechnet auf die freie Liebe bei Heckenbraunellen? Über dem Rand der Kaffeetasse, wie üblich: Ein vierköpfiges Grüppchen laut jubilierender Prunella modularis-Exemplare balzte und kopulierte in den noch immer unbegrünten Buchenzweigen. Ich fand ihren Gesang übrigens ganz hübsch – während er von Experten regelmäßig mit quietschenden Fahrradketten und ähnlich despektierlichen Vergleichen beschrieben wird. Als weitere Exemplare (ich kann Männchen und Weibchen nicht unterschieden) auftauchen, dachte ich: Jetzt gibt es sicher gleich Zoff. Doch statt dessen machte das Weibchen verschiedenen Kandidaten schöne Augen, bzw Federn – und diese nahmen das nicht zum Anlass, einander zu beharken. Die vier machten tatsächlich einen vertrauten, befreundeten Eindruck – und das allwissende Internet klärte mich dann auf: Ausgerechnet die braun-grauen Heckenbraunellen haben beim Thema Sex eine ausgesprochen bunte Palette von Beziehungen zur Wahl. Ich hab’ aus der Geschichte aber weniger über offene Partnerschaften gelernt, sondern (einmal mehr): Sobald man nicht versteht, was man sieht, lohnt es nachzufragen (oder zu lesen). „Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum- wer nicht fragt, bleibt dumm“ stimmt- nach all den Jahren- immer noch. Ihr unscheinbares „KBV-Image“ sind meine Heckenbraunellen nach der Swinger-Einlage jedenfalls los, so wie einst die Rotkehlchen die Unschuld ihrer niedlichen Knopfaugen verloren.