Legt man sich an einem warmen Herbsttag rücklings auf den „Kräuterrasen“ und guckt in den Himmel kann man sich fragen, wo unser Garten in der dritten Dimension eigentlich genau endet. Bis zu den Kondensstreifen der glänzenden Passagiermaschinen reicht „unser“ Luftraum wohl nicht. Auch die im warmen Aufwind segelnden Milane oder Bussarde, die regelmäßig auf der Suche nach unvorsichtigem Kleinvieh über der alten Mühle 20 kreisen, zähle ich noch nicht zu den Gartenbesuchern – bis sie sich auf eine Snack herab bemühen. Schwalben und Fledermäuse dagegen jagen unterhalb des Dachfirstes und damit aus meiner Sicht IM Garten. Knapp über der Vegetation kann man noch eine Gruppe besonders spektakulärer Durchflieger beobachten: Verschiedene Libellen nutzen den Garten-Luftraum als Jagdgebiet, obwohl schon seit 10 Jahren keinen Teich mehr als Kinderstube bereit steht. Knallbunt und pfeilschnell flitzen die „Trollspindeln“, wie die Schweden sie nennen, auf der Suche nach Opferinsekten an den Hecken entlang. Der englische Name „Dragonflies“ (oder besser Dinosaurflies) passt auch – denn die akrobatischen Jagdflieger nutzen mein Zuhause schon seit mehr als 300 Millionen Jahren zur Futtersuche (falls es ihnen nicht zwischendurch zu kalt war..)
Kunstflieger
Ihre Flugtechnik haben sie seit den Dinosauriertagen jedenfalls zur Meisterschaft getrieben: Libellen sind auch nach Insektenmaßstäben Meister des Kunstfluges. Sie können in der Luft stehen und blitzschnell die Richtung ändern, viele sogar rückwärts fliegen. Die größte der bei mir gesichteten Teufelsnadeln (Blaugrüne Mosaikjungfer, Aeshna cyanea) erreicht stolze 50 kmh. Libellen haben eine besondere Technik zur Steuerung ihrer vier Flügel. Während bei den meisten anderen Fluginsekten die beteiligten Muskeln innen an der Wand des Brustsegmentes (Thorax) befestigt sind und die Flügel nur indirekt bewegen, haben Libellen individuelle Muskelpaket direkt für die einzelnen Flügel. Sie können also jeden Flügel einzeln steuern – und so akrobatische Manöver fliegen. Die individuelle Steuerung ermöglicht es auch, die beiden Flügelpaare phasenverschoben zu benutzen. Das spart zusätzlich Energie, genau wie die Möglichkeit, den Anströmwinkel der Flügel aktiv zu verändern. Die dunklen Segmente auf den Flügeln sind keine optischen Verzierungen: Diese sogenannten Pterostigmata fungieren als Gewicht, das bei hohen Geschwindigkeiten die Vibration der Flügel verzögert – denn die würde Energie kosten und den Flug stören. Bioniker sind jedenfalls beeindruckt und versuchen von Libellen zu lernen. (Nicht ausgeschlossen, dass uns ein 300 Millionen Jahre altes Konzept danach als „Innovation“ verkauft wird ;-)).
Sex-Yoga
Akrobatisch ist auch die Paarung: Schon zur Vorbereitung muss der Libellenmann mit einer Yoga-ähnlichen Übung Sperma aus seiner Genitalöffnung „tanken“: Der Samen reift nämlich 6 Hinterleibssegmente entfernt vom eigentlichen Begattungsorgan. Hat er es geschafft, seine Samenblase am Hinterleibsende zu „laden“, packt er ein Weibchen mit dem Hinterleib am Kopf, worauf sie ihren Körper mit dem des Männchens zu einem „herzförmigen“ Paarungsrad verbindet. Das sieht romantischer aus, als es ist, wie ich schon einmal beschrieb…
Schnellsichtig
Wer Fliegen und Mücken jagen will, muss wirklich schnell sein – nicht nur im Flug, auch optisch. Tausende Einzelaugen, die in großen Facettenauge gebündelt sind ermöglichen ein riesiges Blickfeld und vor allem eine hohe zeitliche Auflösung. Sie kann (je nach Libellenart) achtmal höher sein als die unserer Augen, das entspricht dann 300 Bildern pro Sekunde. (Wir sehen dafür mehr Bildpunkte und damit schärfere Bilder). Die Bildverarbeitung vieler Libellen ist außerdem durch einen „mathematischen Kniff“ besonders schnell: Es wird quasi nur die Information über die Veränderung und nicht über das das komplette Bild weitergeleitet. So funktioniert die Datenweitergabe besonders zackig. Einer Libelle entgeht so leicht nichts -zumal ihr Kopf extrem beweglich ist und quasi eine 360Grad-Sicht ermöglicht.
Kürzlich setzte eine handtellergroße Mosaikjungfer ihren Jagdflug in unserem Wohnzimmer fort und haderte alsbald mit den vielen Fensterscheiben. Zu ihrer eigenen Sicherheit beschloss ich ihr den Weg zu weisen – und zögerte kurz, bevor ich das imposante Insekt berührte. Irgendwo tief in mir muss der Mythos von den schmerzhaften Libellenstichen noch geschlummert haben. Glücklicherweise weckte das drängende Gebrumm der am Fenster gefangenen Trollspindel schnell meine rational arbeitenden Hirnteile: Libellen können gar nicht stechen. Weder Pferde noch Menschen – und auch nicht in die Augen.